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Empfehlung im April 2020 von Wilhelm Breitenbach
Bodo Kirchhoff: Widerfahrnis
Es ist eine Geschichte, "die ihm noch immer das Herz zerreißt", so beginnt Kirchhoffs Novelle und so lässt der Autor seinen Er-Erzähler Julius Reither schon zu Beginn resümieren. Reither, gescheiterter Verleger und Buchhändler, der erkannt hatte, "dass es allmählich mehr Schreibende als Lesende gab", trifft auf Leonie Palm, genauso gescheiterte Huthändlerin, die feststellen musste, dass es für ihre Hüte "immer weniger Gesichter" gab. Nach einigen Gläsern Rotwein und vielen Zigaretten sitzen sie im Auto und fahren gemeinsam Richtung Süden.
Es beginnt eine Liebesgeschichte, die die Reisenden einander immer näherbringt ("der Plural, allmählich senkte er sich in alles hinein").
Gleichzeitig entwickelt sich ihre Reise zu einer Flucht vor der Einsamkeit des Älterwerdens und der Frage nach einem sinnerfüllten Leben. Nicht nur geschäftlich, auch privat sind beide gescheitert. Keine ihrer Beziehungen hat gehalten, beide haben ihre Kinder verloren.
Und sie sind nicht die einzigen auf der Flucht. Auf ihrem Weg in den Süden tauchen am Rande immer wieder Flüchtlinge aus Nordafrika auf, wir sind im Frühjahr 2015. Im sizilianischen Catania schließlich wird Widerfahrnis konkret. Ein Flüchtlingsmädchen steht plötzlich vor den frisch Verliebten, "es trug ein fetzenartiges rotes Kleid, dazu Flipflops, und um den Hals hing etwas wie eine Scherbe oder Muschelhälfte". Bald sitzt die stumme Namenlose bei ihnen am Tisch, schläft bei ihnen im Hotel und fährt in ihrem Auto mit. Es sieht aus, als könnte es eine gemeinsame Zukunft geben.