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Ausschnitt eines alten Stadtplans von Münster aus dem Jahre 1862
 
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Jüdisches Leben

Stadtbezirk:Münster-Mitte
Statistischer Bezirk: Dom
Entstehung: 2020
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Als das jüdische Leben in Münster erlosch

Über die Deportation der letzten münsterländischen Juden in das »Altersghetto« Theresienstadt am 31. Juli 1942

Am 30. Juli 1942 abends trat der Bahninspektor Heinz Pällmann seinen Dienst an der Rampe des Güterbahnhofes in Münster an. Aus der verdunkelten Stadt kamen gegen 22 Uhr unvermutet vier SS-Männer zur Rampe hochgefahren. Kurze Zeit später folgten vier Pferdegespanne des Möbeltransportunternehmens Peters. Etwa 100 alte und gebrechliche Menschen entstiegen den Wagen. Ein älterer Herr verfehlte das bereitgestellte Trittbrett und sackte zusammen; eine herbeispringende Frau half dem alten Mann wieder auf, während sich die SS-Männer über die Unbeholfenheit des alten Menschen amüsierten.

Die Gehfähigen wurden in Personenwagen eingewiesen. Einst geachtete, stadtbekannte Kaufleute wie das Ehepaar Karl undHenny Waldeck(früher Roggenmarkt 10, Haushaltswaren) undHedwig Feibes(47), die Ehefrau des Kaufhausbesitzers Fritz Feibes, Salzstraße 3/4, zählten zu diesem Transport. Auch der im Ersten Weltkrieg beinamputierte Bernhard Michel (44) gelangte auf deinem fahrbaren Untersatz mit seiner Ehefrau und der blondgelockten 5-jährigen Tochter Liesel in den bereitgestellten Waggon.

Wenig später trafen in Decken gehüllte hinfällige Menschen, etliche auf Tragbahren ein, die auf den Fußboden der Güterwagen entladen wurden. Dem Augenschein nach waren sie aus Kranken- und Altersheimen der Umgebung herangeschleppt worden. Als gegen Mitternacht die Verladung beendet war, erstattete ein Uniformierter Meldung an die Gauleitung: „Gau Westfalen-Nord – ab heute Mitternacht judenfrei". Der Transport Nr. XI/1 setzte sich in Bewegung.

Das NS-Regime machte ab 1933 – zunächst schleichend – aus den in Deutschland lebenden Juden geächtete Außenseiter, ab 1937/38 „Volksschädlinge" und schließlich Volksfeinde. Nach dem Verbot aller Arbeitsmöglichkeiten nach dem Pogrom 1938, der Verwüstung von Geschäften und Wohnungen sowie Inhaftierung in Gefängnis oder KZ brachten Zwangsbesteuerung und Sonderabgaben die jüdischen Familien an den Rand ihrer Existenz. Notverkauf des Eigentums und Umzug in kleine Mietwohnungen waren die Folge. Die Spareinlagen für den Lebensunterhalt und die Reserven zur Flucht aus Deutschland schmolzen. Nachdem man sie im September 1941 mit dem „gelben Stern" gebrandmarkt hatte, wurden die Arbeitsfähigen (bis 65 Jahre) mit ihren Familien im Dezember 1941, Januar 1942 und März 1942 nach Riga und Warschau „evakuiert", während etwa 78 zurückbleibende Personen von der Gestapo im Februar 1942 in der ehemaligen jüdischen Schule in Münster auf engstem Raum eingepfercht wurden.

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vergrößern2010: Das Gebäude der Marks-Haindorf-Stiftung Am Kanonengraben Nr. 4

Dort lebten sie ohne Kontakt zur Außenwelt wie Gefangene. Besonders die Nächte wurden zur Qual: Kranke stöhnten, andere schreckten aus Albträumen hoch, Verwirrte versuchten der Enge zu entkommen, während draußen Sirenen heulten und Bomben fielen.

Das ungewisse Schicksal der in den „Osten" abgeschobenen Gemeindemitglieder wirkte auf die Zurückgebliebenen bedrückend. Eltern von emigrierten Kindern hofften wider alle Vernunft noch auf die erlösende Nachricht, in letzter Minute ausreisen zu können. Ängste und Resignation, hastig zu Papier gebracht, geben nur einen schwachen Eindruck der sinkenden Hoffnung wieder: „ Ach, mein lieber Hans, wenn wir uns doch recht bald wiedersehen könnten, aber leider glaube ich nicht, dass es so bald sein wird und ob es überhaupt noch einmal sein wird?", schriebHenny Waldeckim Juni 1942 an ihren Sohn in Argentinien.

Das zermürbende Warten endete im Juli 1942 mit der Nachricht von ihrer „Evakuierung" in ein Altersghetto. Juden über 65 Jahre, schwerkriegsbeschädigte und hochdekorierte Weltkriegsteilnehmer wie auch jüdische Partner aus nicht mehr existierenden „Mischehen" sollten nach Theresienstadt bei Prag gebracht werden.

Perfekt verstand es der NS-Staat, seine wahren Absichten durch beschönigende Wortwahl zu verschleiern. So nährte die gewählte Bezeichnung „Wohnsitzverlegung" und „Vorzugslager" die Hoffnung, in eine bevorzugte Stadt im Herzen Europas anstatt in den gefürchteten „Osten" zu kommen. Der Abschluss eines „Heimeinkaufsvertrages", den die Betroffenen mit der „Reichsvereinigung der Juden in Deutschland" vor ihrer Abreise tätigten und der ihnen auf Lebenszeit Unterkunft und Verpflegung, Versorgung mit frischer Wäsche und Medikamenten sowie im Krankheitsfall ärztliche Betreuung in der neuen Unterkunft vorgaukelte, wirkte beruhigend. Kaum ein Unterzeichner hegte den Verdacht einer vorsätzlich ins Werk gesetzten Täuschung, zu der die jüdische Gesamtvertretung von der Gestapo gezwungen worden war. Viele kamen daher ohne Argwohn der Aufforderung nach. Bis zum 31. August 1942 wurden bei der Bezirksstelle Westfalen der Reichsvereinigung der Juden 433 Heimeinkaufsverträge mit einer gezeichneten Summe von über drei Millionen Mark abgeschlossen. Für Münster sind Summen von 900 RM bis 18.000 RM nachgewiesen.

Wer von den in Münster in behelfsmäßiger Behausung lebenden Juden war nicht trotz gewisser Vorbehalte bereit, auf eine bessere Zukunft zu hoffen? So schrieb angesichts der bevorstehenden „Wohnsitzverlegung" die Witwe Elly Zeiller (66) an eine in der Schweiz lebende Freundin voller Zuversicht: „Ich freue mich, viele liebe Bekannte wiederzusehen. Hoffentlich bleibe ich gesund und dann besteht die Hoffnung, dass auch wir ein Wiedersehen feiern können". Von ihrem früheren Arbeitgeber Richard Schmedes, dem Inhaber eines Hutgeschäftes in der Salzstraße, verabschiedete sich auch die ModistinSophie Heimbach. In ihrem Brief dankte sie ihm für alles „Alles Gute" und fügte hinzu: „Donnerstag treten wir unsere Erholungsreise an". Aus Rücksicht auf den Adressaten unterließ sie es, den Brief zu unterschreiben. Über 170 Münsteraner Juden des 900 Personen umfassenden Transports XI/1 der Gestapoleitstelle Münster/Bielefeld Wurden am 31. Juli 1942 in das Ghetto Theresienstadt verschleppt. Unter ihnen waren fast alle Insassen der Marks-Haindorf-Stiftung. Hinzu kamen Personen aus „Mischehen", die durch den Tod des „arischen" Partners ihren privilegierten Status verloren hatten. Zu diesen zählte Prof. Dr. Friedrich Münzer, der in der Frühe des 30. Juli 1942 morgens um sechs Uhr aus seiner Wohnung Heisstr. 2 von Gestapobeamten abgeholt und zur Sammelstelle im Schützenhof gebracht wurde. In seiner Aufregung hatte der 74-Jährige verwitwete Altphilologe nur seinen Brotbeutel ergriffen und den Koffer mit Reiseutensilien und Wäsche stehen lassen, den seine Adoptivtochter ihm nachbrachte. In der Wörthstr. 16 verschaffte sich die Gestapo gewaltsam Einlass: Die Witwe Frieda Grünewald hatte mit ihrer 20-jährigen Tochter Ingeborg, beide protestantischer Konfession, am Vorabend in ihrer Wohnung aus Verzweiflung den Gashahn geöffnet.

In Münster blieb im Haus Am Kanonengraben 4 nur der RechtsanwaltDr. Erich Simonsmit Ehefrau und den beiden Kindern Ernst und Lore sowie seine Mutter zurück. Man benötigte den jüdischen Juristen, um die Zwangseinziehung des Vermögens der deportierten Juden nach formaljuristischen Kriterien korrekt abzuwickeln.

Die Personen des Münsteraner Transports erfüllten nur zu 78 Prozent die vorgeschriebene Altersgrenze von 65 Jahren. Mehrere jüngere Frauen zwischen 35-50 Jahren wurden offensichtlich zur Versorgung der bettlägerigen Kranken und Behinderten benötigt. Den beiden ältesten Deportierten, Heinemann Heimbach (Laer/Steinfurt) und Margarethe Heimann (Ahaus), beide 87 Jahre alt, war kein Grab in heimischer Erde vergönnt. Fünf Kinder unter sieben Jahren teilten das Schicksal ihrer Eltern bzw. Großeltern.

Trotz weitgehender Geheimhaltung war der nächtliche Abzug der letzten Juden Münsters bekannt geworden. Der Lokalchef der Münsterschen Zeitung (MZ), Paulheinz Wantzen (1901-1974), notierte nach antisemitischem Muster: „Vor einigen Tagen … sind die letzten Juden … aus Münster nach Theresienstadt abtransportiert worden. Sie dürfen einen Zentner Gepäck mitnehmen und für drei Tage Verpflegung, erhielten außerdem als Sammelladung für eine Übergangszeit von 14 Tagen Lebensmittel mit." Die meisten seien „gutwillig gegangen". Man hätte ihnen beim Tragen der schweren Koffer geholfen, „für die manche Juden buchstäblich schon zu schlapp gewesen" seien.

Theresienstadt, 60 Kilometer nordöstlich von Prag gelegen, war eine Garnisonsstadt nahe der Elbe. 1930 betrug die Einwohnerzahl 7181 Personen, die in 11 Kasernen und 219 privaten Häusern wohnten. Im Laufe der Monate Juni/Juli 1942 gelangten 15 Transporte mit je 1000 Juden aus dem Großdeutschen Reich in die überbelegte Stadt. Die Ghettoverwaltung zählte am 18. September 1942 mit 58.000 Ghettoinsassen den höchsten Bevölkerungsstand.

Bei Ankunft des Münsteraner Transports am 1. August 1942 waren Kasernen und Gebäude bereits belegt, so dass die Neuankömmlinge in Kasematten, Notunterkünften und auf überfüllten Dachböden unterkommen mussten. Die sanitäre Situation war katastrophal: Tag und Nacht standen lange Schlangen vor den Latrinen. Die Erkenntnis, hintergangen worden zu sein, erfolgte beim Anblick der Zustände und nahm vielen Alten den Lebensmut.

Angesichts der Konzentration von Menschen auf engstem Raum bei mangelnder Versorgung und Hygiene war die Sterblichkeit unter den früher teilweise gut situierten Neuankömmlingen ungewöhnlich hoch. Von August bis Oktober 1942 starben über Zehntausend, darunter 56 Prozent der deutschen Juden. Bis November 1942 erlagen 39 der Münsterländer Deportierten den Durchfallerkrankungen, Lungenentzündungen oder Infektionen. Nach und nach setzte sich auch die erschreckende Erkenntnis durch, dass Theresienstadt nur eine Zwischenstation auf dem Weg in ein Vernichtungslager sei, denn 45 Personen aus Münster und Umgebung pferchte man mit je 2000 weiteren Unglücklichen am 23. und 26. September 1942 in Transporte nach Treblinka, wo sie nach der Ankunft ermordet wurden. Darunter befand sich Elly Zeiller, die im Juli 1942 noch optimistisch auf ein Wiedersehen mit alten Freunden in Theresienstadt gehofft hatte. Keiner von ihnen überlebte den Tag ihrer Ankunft in Treblinka.

Die panische Angst vor weiteren Deportationen wuchs in den Jahren 1943/44 und fand Ausdruck in einem Gedicht von der aus Münster deportierten Sophie Isaac:
    „Von Mund zu Mund raunt ein schreckliches Wort;
    Es geht ein Transport, es geht ein Transport!
    In langen Kolonnen zum Registrieren sie gehn,
    Ergeben ins Schicksal, so sieht man sie stehn.
    Und jeder fragt heimlich im Busen sich bang,
    Wie lang bist du hier noch, wie lange, wie lang?"

Die Todestransporte in den Osten, die bis Mitte Oktober 1944 durchgeführt wurden, brachten fast allen den Tod in Auschwitz oder auf einem „Todesmarsch". Von den etwa 170 Deportierten aus Münster bzw. dem Münsterland nach Theresienstadt überlebten elf, darunter Hilde Michel mit dem beinamputierten Ehemann und der Tochter Liesel. Sophie Isaak wurde mit ihrem Mann Bernhard und etwa 2000 anderen Häftlingen kurz vor der Kapitulation Hitler-Deutschlands durch Vermittlung von Mitgliedern des Schweitzer Bundestages im Februar 1945 „freigekauft". Sie starb im August 1945 in Zürich.

Am 31. Juli 1942 wurde die jüdische Gemeinde in Münster ausgelöscht. An viele Deportierte nach Theresienstadt erinnern Stolpersteine im Stadtgebiet von Münster.

Quelle: Westfälische Nachrichten, Auf Roter Erde, Heimatblätter für Münster und das Münsterland Nr. 6/2004