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Komplexität statt Heteronormativität
Tagung zu Genderperspektiven auf Nationalsozialismus und Holocaust in der Villa ten Hompel
Wie fasst man eine zweitägige internationale Tagung mit 65 Teilnehmenden und mit zahlreichen Vorträgen zusammen, die nicht nur die historische Komplexität von Genderperspektiven auf Nationalsozialismus und Holocaust, sondern auch deren Nachwirken bis in die Gegenwart in den Blick nehmen? Und wie die anregenden wie angeregten Diskussionen, die aufzeigten, wie gewinnbringend für Analysen die Abwendung von der hegemonialen Geschlechterbinarität und die Hinwendung zu Vielfalt und Intersektionalität ist?
Dabei hatte zu Beginn der Tagung – in der Konzeption, aber auch in der Begrüßung durch Thomas Köhler seitens der Villa ten Hompel – das Eingeständnis eines Mankos gestanden: Im August 2023 war der internationale Sammelband „Polizei und Holocaust“ erschienen, u.a. herausgegeben von Thomas Köhler, in dem Genderperspektiven nur in einzelnen Beiträgen Berücksichtigung gefunden hatten. Aus dieser impliziten Marginalisierung machte das Tagungsteam um Karolin Baumann, Annina Hofferberth und Thomas Köhler eine Stärke und rückte Genderzugänge in das Zentrum der konzeptionellen Überlegungen.
An zwei Tagen ging es um Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen, um die Rolle von sexualisierter und sexueller Gewalt im Holocaust, aber auch von Intimität, Liebe und Sexualität im Nationalsozialismus. Darüber hinaus sprachen Referierende und Teilnehmende auch über diejenigen, die von der Erinnerungskultur noch lange über 1945 hinaus ausgeschlossen blieben und fortgesetzt Verfolgung erlebten, wie zum Beispiel die unter §175 Verfolgten oder Sinti* und Roma*. Die Tagung endete mit einem Blick auf Tradierungsformen über Generationen- und Nationengrenzen hinweg.
Im Verlauf der Diskussionen wurde deutlich: Klare Trennungen zwischen Privatem und Öffentlichem, zwischen Zärtlichkeit und Gewalt, zwischen Agency und Zwang, zwischen einer vermeintlichen cis-heterosexuellen Mehrheitsgesellschaft und einer queeren Minderheit werden der historischen Komplexität nicht gerecht. "Ich finde es sinnvoll, wenn wir bei der Untersuchung alternativer Lebensweisen das Selbstverständliche daran deutlich zu machen - denn aus meiner Sicht sind nicht jene, sondern die Heteronormativität das Problem", so Julia Paulus, die in einem Abschlusskommentar auf die zurückliegenden Tagungsdiskussionen blickte.
Neben den Panels mit engagierten Inputs und Diskussionen im Saal des Geschichtsortes fand im Vorfeld ein queergeschichtlicher Stadtrundgang mit der Dragqueen Liberty Lestrange vom Dragkollektiv House of Blaenk in Münster statt. Sie führte die Tagungsteilnehmenden an geschichtsträchtige Orte von FLINTA*, also Frauen, Lesben, intergeschlechtliche, nichtbinäre, trans und agender Personen.
Inhaltlich gerahmt wurde die Tagung durch die öffnende Keynote von Elizabeth Harvey aus Nottingham und den öffentlichen Gesprächsabend mit Elissa Mailänder aus Paris im Erbdrostenhof. Elissa Mailänder und Thomas Köhler sprachen darüber, wie neben „doing gender“ auch „doing nazism“ beim Verständnis der Attraktivität des Nationalsozialismus helfen kann: Welche Anreize bot das NS-Regime denjenigen, die in dieses rassistische Weltbild hineinpassten, um sich in die Diktatur einzubringen? Und welche Rolle spielte Gender dabei?
Ohne die Förderung durch die Sparkasse Münsterland Ost, den Förderverein der Villa ten Hompel und das United States Holocaust Memorial Museum Washington D.C. wäre die Tagung in Kooperation mit dem LWL Institut für westfälische Regionalgeschichte und das Program in Jewish Studies an der University of Colorado Boulder nicht möglich gewesen.
Ein vollständiger wissenschaftlicher Tagungsbericht, auch mit Blick auf die einzelnen Panels, wird in Kürze auf HSozKult erscheinen. Wir werden an dieser Stelle ebenfalls darauf hinweisen.