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"Nicht ermittelt!"
Dritte Auflage des Handbuches von Stefan Klemp über Polizeibataillone und Nachkriegsjustiz erschienen
Im Januar 2022 erschien die bereits dritte Auflage des Handbuchs über Polizeibataillone zur Zeit des Nationalsozialismus und deren juristische Aufarbeitung in der Nachkriegszeit. Die ersten beiden Auflagen waren restlos vergriffen. Nun legt Historiker Stefan Klemp eine korrigierte, erweiterte und überarbeitete Auflage vor. Im Interview mit Henrik Oberhag, Teamer im Geschichtsort Villa ten Hompel, sprach er über den neuen Inhalt.
Hallo Herr Klemp: Wie ist die Neuauflage von "Nicht ermittelt" inhaltlich aufgestellt und was haben Sie thematisch ergänzt?
Sie ist eine aktualisierte und erweiterte Fassung der ersten Auflagen. Es ist einerseits also ein Handbuch über Polizeibataillone während der NS-Zeit, andererseits gehe ich auch darauf ein, wie die Verbrechen juristisch in der Nachkriegszeit aufgearbeitet worden sind. Hinzugekommen ist dieses Mal ein Prolog, in dem ich mich vor allem mit Entlassungsanträgen von Schutzpolizisten während der Ausbildung oder der Dienstzeit beschäftige. Aber auch zwei Kapitel über das Polizeibataillon 32 und das SS-Polizeiregiment 17 sind neu. Dazu finden sich dann einige Aktualisierungen und Korrekturen: So zum Beispiel die Geschichte um den Schriftsteller Erwin Strittmatter, dem 2008 medienwirksam vorgeworfen wurde, er hätte in der DDR seine Geschichte bei der Ordnungspolizei verschwiegen, was aber nicht stimmt.
Wie kam es denn, dass Sie sich gerade noch einmal mit der Thematik "Entlassungen aus der Schutzpolizei" auseinandergesetzt haben?
Ausgangspunkt war Christopher Brownings "Ordinary Men" (dt. "Ganz normale Männer", 1993). Auf diese "normalen Männer", die es natürlich gegeben hat, wollte ich einen anderen Blick werfen. Es wird dabei viel zu leicht vergessen, dass es auch eine bestimmte 'Idee' gegeben haben muss, die dazu führte, dass sich Schutzpolizisten an Massenmorden beteiligten. Welche Männer sind es also überhaupt gewesen, die den Polizeidienst antraten? War das ein Querschnitt durch die Gesellschaft? Sind sie eingezogen worden ohne eigenes Zutun?
Sicherlich gab es auch die Motivation, nicht in die Wehrmacht eingezogen zu werden. 1939 meldeten sich 160.000 Männer freiwillig zur Polizei, weil sie dachten, sie würden im rückwärtigen Heeresgebiet eingesetzt. Wenn die Frage, ob es sich um "ganz normale Männer" handelte, beantwortet werden soll, müsste man sich auch mit der Frage beschäftigen, ob die Männer die verbrecherischen Ziele des Einsatzes vorher sogar erkannt haben, aber dennoch nicht ihren Dienst quittierten, obwohl sie ihre Entlassung hätten erreichen können, wenn sie es gewollt hätten.
Dazu hatte ich bei der Polizeibehörde in Wien eine Kartei ausgewertet, in der es u. a. rund 180 Entlassungen aus dem Polizeidienst gegeben hat – teils waren diese auf eigenen Antrag erfolgt, teils aufgrund von Verfehlungen und Verurteilungen.
Daraus ergab sich für mich die Frage, was denn der Wunsch gewesen ist, entlassen zu werden: Haben sie vielleicht gemerkt, was das Ziel des Einsatzes sein würde?
Andererseits gab es auch Schutzpolizisten, die während des Einsatzes Suizid begangen hatten. Auch das wird angesprochen.
Das Problem sind Verallgemeinerungen. Sie funktionieren nicht. Bei Polizeibataillonen waren nicht nur normale Männer, sondern auch Überzeugungstäter und Psychopathen, und das nicht nur in Führungspositionen.
Das Thema "Entlassungen" wirkt nun auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich. Es gibt ja auch die Behauptung, dass, wenn Soldaten oder Polizisten sich nicht an Massenerschießungen beteiligten, sie um ihr eigenes Leben hätten fürchten müssen.
Diese Behauptung über einen Befehlsnotstand gab es. Es gab auch Befehlshaber, die mit Drohungen arbeiteten, um Angst zu schüren. Trotzdem muss ich sagen, dass sich der behauptete Befehlsnotstand im Bereich der Polizei nicht bestätigen lässt. Bei fast allen Polizeieinheiten gibt es nachgewiesene Fälle von Befehlsverweigerung bei Massenerschießungen, aber keinen Nachweis einer schweren Strafe wie zum Beispiel Erschießung. Im Gegenteil. Es gab auch während des Krieges erfolgreiche Bemühungen um "Entlassung".
1944 wurde ein Schutzpolizist nach Einsätzen im Warschauer Ghetto auf eigenen Wunsch zur freien Berufsausübung nach Hamburg entlassen.
Mein Eindruck ist eher, dass trotz der Begleiterscheinungen, die eine Bewachung eines Ghettos mit sich brachte, die Freude, zur Schutzpolizei zu kommen, überwog. Dann stellt sich wieder die Frage nach dem Warum: War es Freude, nicht an die Front zu kommen, oder Zustimmung zur NS-Vernichtungspolitik, oder beides?
Andererseits sprechen die Selbstmorde dafür, dass zumindest ein Teil der Männer sich in einer so schlimmen Situation befunden hat, dass sie keinen anderen Ausweg als den Tod sahen.
Ich würde gerne noch einmal auf den anderen inhaltlichen Aspekt zu sprechen kommen, nämlich die Nachkriegsjustiz bzw. die juristische Aufarbeitung überhaupt. Wie verhielt es sich denn damit in Bezug auf die Polizeigeschichte?
In der Bundesrepublik wurde das Thema zunächst gar nicht angegangen. Als die ersten Ermittlungen gegen einzelne Polizeibataillone liefen, wurde aber ein Großteil der jeweiligen Angehörigen namentlich nicht ermittelt, also nicht festgestellt. Das hätte allerdings mit Hilfe der vorhandenen Quellen kein Problem dargestellt.
Exemplarisch ist hierfür der Fall des Polizeibataillons 61 aus Dortmund. Das war im Jahr 1942 unter anderem an Erschießungen im Warschauer Ghetto beteiligt. Die Ermittler stellten in den 1950er Jahren nur rund 100 Namen bei über 500 Bataillonsangehörigen fest. Die Hauptangeklagten besuchten die Belastungszeugen zuhause, die dann ihre Aussagen widerriefen. Ghettobewohnerinnen und -bewohner wurden nicht befragt. Das Dortmunder Landgericht sprach die beschuldigten Polizisten schlussendlich wegen "erwiesener Unschuld" frei. Ein Skandalurteil, gegen das der Dortmunder Polizeipräsident bei der nordrhein-westfälischen Landesregierung erfolglos protestierte. Das war das Modellverfahren, gerade für Nordrhein-Westfalen.
So können wir tatsächlich davon sprechen, dass "Nicht ermittelt" wurde. Viele der Beteiligten standen auch nach 1945 im Polizeidienst.
Ich danke Ihnen für das Gespräch.
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