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„Vieles ist uns heute unvorstellbar, was damals los war.“
Ein aufrichtiger Blick auf die DDR-Bürgerrechtsbewegung, aber auch auf das Beamten-Versagen bei der Polizei am 24. November 1990 im brandenburgischen Eberswalde
Uta Leichsenring stellte sich bei einer Teamendenschulung den Fragen zum Fall Amadeu Antonio
„Großer Bahnhof“ für Uta Leichsenring, die frühere DDR-Bürgerrechtlerin und Polizeipräsidentin im brandenburgischen Eberswalde in der Umbruchzeit nach der friedlichen Revolution 1989/90. Als eine aufrichtige und problembewusste Zeitzeugin bereicherte sie einen Neueinstiegs- und Schulungstag von Villa ten Hompel und „Gegen Vergessen Für Demokratie“ mit einem Angebot der Rückschau und Diskussion, das allen Teilnehmenden enorm unter die Haut ging. Schilderte doch Uta Leichsenring ihre Eindrücke von der Implosion des SED-Regimes, aber auch das spätere Beamten-Versagen in der jung wiedervereinigten Bundesrepublik in einem Einsatz am 24. November 1990 in Eberswalde. Für den gebürtigen Angolaner Amadeu Antonio endete er grausam: Rechtsextreme prügelten ihn, weil er eine andere Hautfarbe als die Mehrheit im Ort hatte und die teils zur Skinhead-Szene zählenden Täter nach eigenen Worten „N**** klatschen" wollten, auf offener Straße zu Tode, während die Polizeikräfte vor Ort nicht imstande waren, dieser offenen Gewalt- und Gefahrenlage zu begegnen und die Opfer gegen den Mob zu schützen. Brandenburg, die Bundesrepublik und die Weltöffentlichkeit waren schockiert, die Welle der politisch motivierten, rassistischen Gewalt riss nicht ab: Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen, Hünxe. „Wir müssten hier viele, viele Orte aufzählen“, so Uta Leichsenring. Polizei sei immer auch Spiegel ihrer Gesellschaft, auch bei diesen damaligen Problem- und Gefahrenlagen. „Darüber gilt es, offen zu sprechen.“
Uta Leichsenring wurde erst nach der Tat im Jahre 1991 in das Amt der Polizeipräsidentin von Eberswalde berufen. Dennoch schmerze sie bis heute der steinige, aber eben notwendige Weg der kritischen Aufarbeitung des Übergriffes. „Vieles ist uns heute unvorstellbar, was damals los war“, beschrieb sie die Behördensituation, aber auch das Handeln der Menschen mit Rückgrat im Polizeiapparat, die sich für eine Demokratisierung und für mehr Prävention gegen Rassismus und auch Antisemitismus einsetzten. "Da gab es einiges an Herausforderungen." Von 2005 bis 2014 leitete sie die Außenstelle Halle des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, heute ein Teil des Bundesarchives. Im Oktober 2020 kam sie in die Kommission zur Aufarbeitung der rechtsextremistischen Anschlagserie in Berlin-Neukölln. Sie engagiert sich darüber hinaus fortdauernd weiter ehrenamtlich im Beirat der Stiftung, die nach Amadeu Antonio benannt ist in mahnender Erinnerung, und hält nach Eberswalde engen Kontakt.
Das Zeitzeuginnen-Gespräch mit ihr leiteten gemeinsam Berit Schröder und Jakob Bläsi aus der Regionalarbeitsgruppe von "Gegen Vergessen Für Demokratie" im Münsterland. Stefan Querl als Gruppensprecher und Leiter der Villa ten Hompel begrüßte auch die zwei Gastreferentinnen für eine Betzavta-Einheit herzlich: Katharina Klasen und Stephanie Wegener wurden freiberuflich als Trainerinnen tätig, um die angehenden Teamerinnen und Teamer in Kommunikations- und Achtsamkeitsfragen zu sensibilisieren. Besonders die Angebote der verschiedenen "Aktivitäten", die das Duo jeweils anleitete und hinterher zur Analyse stellte, kamen hervorragend an. Das grundlegende Prinzip von Betzavta ist die Überzeugung, dass alle Menschen das gleiche Recht auf freie Entfaltung haben – auch in Konfliktfällen. Das Wort für die Methode stammt aus der hebräischen Sprache, wie Katharina Klasen und Stephanie Wegener erläuterten.
Die Studierenden, die an dem Teamer*innenschulungstag teilnahmen, wappneten sich so methodisch für Herausforderungen in Projekten oder während historischer Führungen durch die NS-Erinnerungsstätte, die sie demnächst in Eigenregie durchführen oder moderieren. Coachen wird sie dabei auch Kim Sommerer aus dem pädagogisch-wissenschaftlichen Kernteam des Geschichtsortes, die den Schulungstag maßgeblich mit vorbereitet hatte. Aus gesundheitlichen Gründen konnte sie nur kurzfristig nicht teilnehmen. Am 12. August wird sie jedoch einen Anschluss-Seminartermin moderieren, bei dem Neueinsteiger*innen mit schon erfahrenen Teamerinnen und Teamern sowie Guides in Workshops die Villa ten Hompel noch besser kennen lernen. Vor allem alle frisch beigetretenen Mitglieder von Gegen Vergessen Für Demokratie im Münsterland sind dazu eingeladen. Infos dazu per E-Mail an muensterland@gegen-vergessen.de
Mehr zu den Möglichkeiten der Mitarbeit am Geschichtsort und bei Partnern auf unserer Homepage.
Mehr zu Amadeu Antonio und der nach ihm benannten Stiftung auf deren Website.