Forschungs- und Gedenkprojekt der Stadt Münster 2021/2022
Gedenken an die verfolgten Homosexuellen und "vergessenen Opfergruppen" des Nationalsozialismus und der Nachkriegszeit
Über die Schicksale von Münsteranerinnen und Münsteranern, die während der NS-Zeit und in der Bundesrepublik als Homosexuelle verfolgt und bestraft wurden, ist bislang nur sehr wenig bekannt. Gleiches ist festzustellen für weitere, weitgehend vergessene Verfolgtengruppen des Nationalsozialismus: Wer einer gesellschaftlichen Minderheit oder sozialen Randgruppe angehörte oder sich nicht in das nationalsozialistische Menschenbild fügte, wurde verfolgt und rigiden Zwangsmaßnahmen unterworfen. Oft wurden diese Verfolgungserfahrungen nach 1945 nicht anerkannt. Viele Betroffene waren weiterhin Stigmatisierungen ausgesetzt.
Ratsbeschluss am 17. März 2021
Der Rat der Stadt Münster beschloss am 17. März 2021 einstimmig, diese Wissenslücken aufzuarbeiten und in der Stadtgesellschaft das Bewusstsein für diese "vergessenen Opfergruppen" zu verankern. Dem Ratsbeschluss gingen Initiativen der Ratsgruppe Piraten/ÖDP (2018) sowie des Vereins Spuren finden e. V. (2020) voraus.
Um in einem ersten Schritt die wissenschaftlichen Grundlagen für etwaige Gedenkformate zu schaffen, forscht seit Mitte Oktober 2021 ein Projektteam des Stadtarchivs Münster in breit angelegten Recherchen – sowohl in den eigenen Beständen als auch in zahlreichen anderen relevanten regionalen und überregionalen Archiven – zu folgenden Gesichtspunkten:
- zur Verfolgung von Münsteranerinnen und Münsteranern, die während der NS-Zeit als Homosexuelle, "Asoziale" ("gemeinschaftsfremde" Personen wie z. B. Obdachlose, Bettler, Suchtkranke, Unangepasste oder auch Sinti und Roma), "Ballastexistenzen" (z. B. körperlich und/oder geistig beeinträchtigte Menschen und "Erbkranke"), Zeugen Jehovas oder auch als Deserteure verfolgt wurden
- zur fortgesetzten strafrechtlichen Belangung homosexueller Münsteranerinnen und Münsteraner nach §§ 175, 175 a StGB in der Bundesrepublik sowie zur Emanzipationsbewegung von LSBTIQ*-Menschen seit den 1970er-Jahren
- zur in der Nachkriegszeit anhaltenden Benachteiligung, Stigmatisierung, Diskriminierung und ggf. zur Emanzipation von Menschen in Münster, die in der NS-Zeit als "Asoziale", "Ballastexistenzen", "Bibelforscher" oder Deserteure verfolgt wurden.
![Auf der Rückseite einer Karteikarte aus der Gewerbekartei der Stadt Münster ist ein Vermerk angebracht: "10 Mon[ate] Gef[ängnis] weg[en] Unzucht mit Männern 25.3.61" (Stadtarchiv Münster, Ordnungsamt, Historische Gewerbekartei) Handschriftlicher Eintrag auf einer Karte aus der Gewerbekartei. Auf der Rückseite ist eine Gefängnisstrafe von 10 Monaten für Unzucht mit Männern vermerkt](/fileadmin/user_upload/stadt-muenster/47_archiv/pics/Startseite/Projekt_Vergessene-Opfer-Gewerbekarte-Unz-2.jpg)
Behördliche Stigmatisierung: Eintrag von 1961 auf einer Karte der städtischen Gewerbekartei: "10 Mon[ate] Gef[ängnis] weg[en] Unzucht mit Männern"
Insbesondere zu der in der Bundesrepublik fortgesetzten strafrechtlichen Verfolgung von Homosexuellen sowie zur Emanzipationsbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre sucht das Projektteam des Stadtarchivs zudem Zeitzeugen, die bereit sind – wenn gewünscht, selbstverständlich auch anonym –, über ihre persönlichen Erfahrungen zu berichten und somit die v. a. amtliche und justizielle Überlieferung um individuelle Perspektiven und Einblicke zu erweitern.
Ausgehend von den Forschungsergebnissen des Projektteams gilt es in einem zweiten Schritt, in Kooperation zwischen Stadtarchiv, Geschichtsort Villa ten Hompel sowie dem Amt für Gleichstellung Formate eines differenzierten Gedenkens an und einer historisch-politischen Bildungsarbeit zu den genannten "vergessenen Opfergruppen" zu entwickeln.
Ansprechpartner im Stadtarchiv:
Timo Nahler, Tel. 02 51/4 92-47 08 oder nahler@stadt-muenster.de