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Forschung: Laufende Projekte
Laufzeit: 1.1.2022 – 31.12.2024
NS-Familiengeschichte – ein Blick zurück auf die Workshopreihe
Seit 2022 haben wir uns als Team des Geschichtsorts verstärkt mit unseren eigenen Familienbiografien in der NS-Zeit beschäftigt. In den letzten acht Monaten hatten wir dabei Gesellschaft von rund 100 Teilnehmenden unserer Workshopreihe „Erzähl mal“. Sie gruben in Schubladen, arbeiteten in Archiven, wälzten Bücher und tauschten sich mit Verwandten und anderen Familiengeschichtsinteressierten aus. Heute werfen wir zum Abschluss der Reihe einen Blick zurück und geben Einblicke in die Erkenntnisse der vergangenen Zeit.
Erkenntnis 1: Nicht entmutigen lassen!
Der Weg klingt erst einmal geradlinig: Man sucht in der Familie nach historischen Unterlagen und fragt bei Archiven an, man erhält Dokumente und deutet sie mithilfe von Forschungsliteratur. Doch die Wartezeiten können im Falle des Bundesarchivs Wochen oder gar Monate betragen und manchmal lassen sich trotz aller Mühe keine Unterlagen auftreiben, die Einblicke ermöglichen. Und auch wenn es sie gibt, stellen sie sich manchmal als Formulare voller unbekannter Abkürzungen oder Schriebe mit unleserlichen Handschriften heraus. Das ist im ersten Moment ernüchternd. Hier gilt es, sich nicht entmutigen zu lassen, sondern die Perspektive zu verschieben. Findet man Forschungsliteratur, die wichtige Hintergrundinformationen liefern kann? Gibt es noch andere Archive oder Institutionen wie Vereine, an die man zuerst nicht gedacht hätte? Oder hilft es, den Wohnort, den Berufsstand der Angehörigen oder andere Aspekte ihrer Lebensumstände einzubeziehen? Historische Recherchen sind auch für Historiker*innen nie geradlinig. Es lohnt sich, verschiedenen Rechercheimpulsen nachzugehen, an die man zuerst gar nicht gedacht hätte.
Erkenntnis 2: Austausch hilft!
In vielen Familien finden sich Geschichten, in denen sich Angehörige bereitwillig in die NS-Diktatur einfügten oder von ihr profitierten. Manchmal kommen eindeutige Hinweise auf die Täterschaft einer verwandten Person ans Licht, in anderen Fällen auf Verfolgung. Teilweise gibt es sogar ein Nebeneinander von Täterschaft und Verfolgung in zwei Zweigen derselben Familie. Diese Erkenntnisse zu gewinnen, kann eine Bestätigung sein, aber auch eine Irritation oder Belastung – auf jeden Fall kann es helfen, sich Menschen im Umfeld zu suchen, die ein offenes Ohr haben. Das Reden darüber kann Klarheit schaffen und helfen, Dinge für sich einzuordnen. Dabei ist erst einmal zweitrangig, ob sich das Gegenüber auch für die Familiengeschichtsrecherche interessiert. Schon das laute Nachdenken kann einen Effekt auf die eigene Auseinandersetzung haben.
Erkenntnis der Teilnehmenden: Es ist zwar Geschichte, aber das heißt nicht, dass es vorbei ist!
Wenn man sich mit Familiengeschichte beschäftigt, erwartet man zuerst eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit – mit vergangenen Ereignissen und Strukturen, mit Geschichtsdaten und Material, dem man das Alter ansieht. Neben diesem Aspekt wurde für viele Teilnehmende der Gegenwartsbezug immer präsenter: Die Geschichte der eigenen Familie setzt sich von den Vorfahren über die Angehörigen bis in die Gegenwart und die eigene Person fort. Historisch bedingte Lebensorte und -umstände, die eigene Erziehung und zwischenmenschliche Beziehungen innerhalb der Familie, mit Nachbar*innen und Freund*innen haben Einfluss auf das eigene Denken und Handeln. Der eigene Wertekompass kann Ausgangspunkt werden, um die Handlungsräume von Menschen in der NS-Zeit zu reflektieren und Fragen zu stellen: Wie hätte ich mich verhalten?
Erkenntnis der Projektleiterinnen: Die Auseinandersetzung hat großes Potenzial für die historisch-politische Bildungsarbeit!
Am Ende der Sitzungen, sei es digital oder vor Ort, bedankten wir uns regelmäßig bei den Teilnehmenden, dass sie ihre Geschichten und Erkenntnisse mit uns geteilt haben. Das war kein Lippenbekenntnis, sondern entsprach der aufrichtigen Bewunderung, dass alle Anwesenden so offen und unverstellt Einblicke gaben. Eine so wertschätzende und interessierte Gesprächsatmosphäre empfanden wir als etwas sehr Besonderes. Zugleich war sie die Grundlage, um über schwierige Fragen zur Geschichte, zu Täterhandeln und Wegschauen, zu Eigeninitiative und Profit ins Gespräch zu kommen – Fragen, die auch in der historisch-politischen Bildungsarbeit eines Geschichtsorts große Relevanz besitzen.
Erkenntnis zu den Archiven: Archive sind offen!
Durch die Zusammenarbeit mit dem Stadtarchiv Münster und den Kreisarchiven Steinfurt und Warendorf konnten alle Seiten profitieren: Wir als Leiterinnen und Teilnehmende durften auf die fantastische Expertise der Praktiker in den Archiven zurückgreifen, wir erhielten handfeste Einblicke hinter die Kulissen, Tipps und Tricks, und die Archive konnten beweisen: Sie sind offen für jedwede Anfrage, sie sind hilfsbereit und bergen jede Menge unerwartete Schätze. So können auch Hürden abgebaut werden, denn manchmal ist die Hemmung groß, sich an Archive zu wenden, weil man glaubt, dass sie nicht zuständig sind oder sie nicht weiterhelfen wollen oder können. Das Gegenteil bewiesen unsere Kooperationspartner!
Uns bleibt, uns ganz herzlich bei allen zu bedanken, die das Projekt zu dem gemacht haben, das es war:
- bei den Förderern: dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes NRW (Regionales Kultur Programm NRW) und dem LWL-Museumsamt
- bei den Kooperationspartnern: dem Stadtarchiv Münster, den Kreisarchiven Steinfurt und Warendorf, die neben finanzieller Unterstützung gerade auch mit all ihrem Know-how über Monate dabei und für zahllose Fragen erreichbar waren
- bei den Teilnehmenden: die sich auf jede Methode und jede Diskussion offen und mit Begeisterung eingelassen haben
- bei allen freiberuflichen Unterstützerinnen: Katharina Ruhland, Hanna Schlieker und Hannah Voß, die uns vor und hinter den Kulissen unterstützt haben
Rückblick
- 4. Februar 2023: Rahmen des Projekts „Erzähl mal...“
- 18. Februar 2023: Veranstaltungen zum Umgang mit NS-Familiengeschichten
- 4. März 2023: Tipps zur Recherche der eigenen NS-Familiengeschichte
- 18. März 2023: Dandy , Nazi, Opa? Die Geschichte von Hermann Hofferberth
- 1. April 2023: Keine Erlösung. Die Geschichte von Uwe Baumann
- 15. April 2023: Reden ist Silber, Schreiben ist Gold. Die Geschichte der Hoffmanns
- 29. April 2023: Einer, der es wagte, zu widersprechen. Die Geschichte von Ferdinand Kreimer
- 13. Mai 2023: (Nicht) Wissen wollen
- 27. Mai 2023: Das Familienerbstück aus den Emslandlagern?
- 10. Juni 2023: Ein Polizist im Generalgouvernement. Die Geschichte von Hermann Jakob
- 1. Juli 2023: Zwischen Verdrängung und Nachdenklichkeit
- 15. Juli 2023: Als Polizist in Bosnien
- 5. August 2023: Ich bin ein Nachkriegskind
- 26. August 2023: Mitwisserinnen, Helferinnen, Täterinnen. Frauen in der NS-Familiengeschichte
- 28. September 2023: „Wir sind alle verstrickt“
- 21. Oktober 2023: Recherchen der eigenen Familiengeschichten. Eine Zwischenbilanz
- 7. Mai 2024: NS-Familiengeschichte in 7 Schritten recherchieren
- 3. Juni 2024: Familiengeschichte im Gespräch – Die Geschichte der Familie Vortkamp
- 1. Juli 2024: Wer ist Theo?