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Literaturline
Lesung November 2025
Michèle Yves Pauty: „Familienkörper“
„Die Geschichte meiner Familie liegt in diesem Land, in seiner Erde und seiner Zeit.“
Die Ich-Erzählerin wächst im Tirol der 80er Jahre auf. Stadtrand, Arbeitermilieu. Postkartenidylle beim Blick aus dem Fenster, eine von Krankheiten zerfurchte Familie um sie herum. Es sind vor allem die Frauen, die sich immer weniger auf ihren Körper verlassen können. Erschöpfung, Allergien, schwierige Schwangerschaften, Schilddrüse, Niere, Gebärmutterkrebs. Aber der Gang zu Ärzt*innen bringt keine Linderung, bringt oft nicht einmal eine Diagnose. Lebensbedrohliche Erkrankungen werden erst spät, auch zu spät, entdeckt.
Medical Gaslighting – wenn Ärzt*innen Symptome als eingebildet oder übertrieben einordnen, weil sie die Patient*innen nicht ernst nehmen. Über drei Generationen hinweg erzählt „Familienkörper“ von den Frauen einer Familie, deren Beschwerden in einem strukturell benachteiligenden System bagatellisiert werden, deren Erfahrungen kein Wert zugemessen wird.
Um sich selbst vor der Wucht dieser Erfahrungen zu schützen, entfremdet sich die Erzählerin zunehmend, von sich und von ihrer Familie. Sie bleibt körperlich gesund, aber es braucht Zeit, bis sie aus den Fragmenten ihrer Familiengeschichte einen Familienkörper zusammenzusetzen imstande ist. Erinnerungsfetzen stehen hier neben Bildern, die nur durch Fotos überdauert haben, neben Erzählungen der Familienmitglieder, Zeitungsberichten, Recherchewissen. Und so dauert es, bis sie ihre Sprache wiederfindet und das Individuelle der Familie in das große Gefüge der Geschichte, in die Folgen von medizinischer Ungleichbehandlung, Kapitalismus und Klassenthematik, das die Personen mit so vielen anderen Individuen zu verbinden vermag, schreibend einordnen kann, bis sie das Gespräch sucht und findet.
Michèle Yves Pauty hat mit „Familienkörper“ (2025 beim österreichischen Haymon-Verlag erschienen) einen poetischen, nahegehenden, traurig-schönen Roman geschrieben. Auf Einladung der Zerlesebühne war sie am 10. Oktober in Münster zur Lesung und hat aus „Familienkörper“ gelesen und über das Schreiben eines Debüt-Romans gesprochen. Michèle Yves Pauty (*1982) hat Fotografie und Deutsche Philologie in Wien und Literarisches Schreiben in Hildesheim und Leipzig studiert. Sie hat in diversen Magazinen und Anthologien veröffentlicht, 2021 folgte die Auszeichnung mit dem Hilde-Zach-Literaturförderstipendium. Pauty lebt in Wien und Leipzig und ist Teil des Künstler*innen-Kollektivs sy:rup. 2025 erschien mit „Familienkörper“ ihr Debütroman. Er steht auf der Shortlist für den Österreichischen Buchpreis Debüt.
Weitere Informationen: www.michelepauty.com
Die Zerlesebühne ist ein Spielort für junge und zeitgenössische Literatur in Münster. Etwa einmal im Monat veranstaltet Gründerin Lucia Hemker in diesem Rahmen Lesungen, die Autor*innen aus der Gegend eine Präsentationsmöglichkeit für ihre Kunst bieten, i.d.R. im SpecOps Network am Aegidiimarkt. Beworben werden kann sich per Open Call auf Instagram, der Website oder per Mail. Die Lesung mit Michèle Yves Pauty fand im Zusammenhang der Lesereihe „Erscheinen“ der Zerlesebühne statt, die dieses Jahr zum ersten Mal durchgeführt wird und vom Kulturamt der Stadt Münster sowie der Kunst und Kultur Stiftung des Münsterland e.V. gefördert wird: Hier stellen vier zeitgenössische Autor*innen ihre Romandebüts vor und sprechen über die unromantischen Prozesse des Literaturbetriebs im Hintergrund. Die vorerst letzte „Erscheinen“-Veranstaltung findet am 7. November 2025 statt, zusammen mit Lena Schätte und ihrem für den Deutschen Buchpreis nominierten Roman „Das Schwarz an den Händen meines Vaters“.
Weitere Informationen: www.zerlesebuehne.com
In der Literaturline liest Michèle Yves Pauty aus ihrem Debütroman „Familienkörper“.


