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Fundstück des Monats
Der 18. Juni 2025 ist der Internationale Tag für die Bekämpfung von Hetze. Hetze wird als zentrales Instrument rechter Rhetorik und Propaganda genutzt. Sie zielt darauf ab, eine Bevölkerungsgruppe zu beeinflussen und diese gegen eine andere zu mobilisieren und aufzubringen. Abwertende Sprache dient dabei als Mittel, um Ablehnung gegenüber dieser Gruppe zu fördern und sie als Bedrohung zu inszenieren. Auf diese Weise werden neue Feindbilder konstruiert oder bestehende verstärkt.
Das Fundstück des Monats ist ein Artikel aus der Zeitschrift „Die Deutsche Polizei“, Ausgabe: „Ordnungspolizei“ vom 1. Mai 1943. In diesem Artikel schildert der Polizei-Kriegsberichter W. Gilles die Sprengung des Hafenviertels Saint Jean/Port Vieux in Marseille im Februar 1943. Der Artikel nutzt Hetze als Mittel, einerseits um die Verbrechen der Nationalsozialisten zu rechtfertigen und zu heroisieren. Andererseits wird eine Gruppe, in diesem Fall die Bewohner*innen des Hafenviertels, kriminalisiert und abgewertet.
Im Hafenviertel von Marseille lebten viele Widerstandskämpfer*innen gegen das deutsche NS-Regime. Seit 1933 waren zahlreiche Menschen vor den faschistischen Systemen in Deutschland und Italien in die französische Hafenstadt geflohen. Viele hatten geplant, von Marseille aus nach Übersee zu reisen. Jedoch verschlechterte sich die Situation für die Geflüchteten nach der deutschen Invasion Frankreichs und unter dem Vichy-Regime, das als französische Regierung ab 1940 im unbesetzten Süden Frankreichs eng mit den Nationalsozialisten zusammenarbeitete. Gerade die Geflüchteten, darunter viele Jüdinnen*Juden sowie politische Gegner*innen, wurden nun verstärkt kontrolliert.
Am 22. und 23. Januar 1943 fanden groß angelegte Razzien im Hafenviertel der zweitgrößten Stadt Frankreichs statt. Angeordnet wurde die sogenannte „Operation Sultan“ von den deutschen Besatzern. Die Durchführung übernahmen SS-Polizei-Regimente mit der Unterstützung französischer Polizisten. Als Vorwand wurde der Anschlag einer Widerstandskämpferin auf die deutsche Besatzung bei einer Neujahrsfeier genutzt.
Zunächst wurden die Menschen aus dem Hafenviertel und vertrieben. Anschließend kam es zu Massenverhaftungen. Knapp 1.700 Menschen wurden in das Internierungslager Compiègne verschleppt und von dort aus in das KZ Sachsenhausen deportiert. 780 Jüdinnen*Juden wurden in die Vernichtungslager Sobibor und Auschwitz entführt. Im Anschluss sprengten Wehrmachtssoldaten große Teile des Hafenviertels. Insgesamt wurden 1.500 Gebäude hierbei zerstört.
Der Artikel in der Zeitschrift beschreibt die Vertreibung der Menschen und die anschließende Sprengung des Hafenviertels als notwendig, um Marseilles „Brutstätte aller Laster und Krankheiten“ zu zerstören. Der Autor bezeichnet die Bewohner*innen des Viertels als Verbrecher und nennt sie „asozial“. Dem Artikel sind zwei Fotografien beigefügt. Zu sehen sind menschenleere Straßen und große Rauchwolken, die das Wohngebiet einnehmen. In der Bildunterschrift werden diese Szenen betitelt mit den Worten „Marseilles Unterwelt wird ausgeräuchert!“. Die Fotografien dienen der Machtdemonstration der Nazis. Während Gilles die Nationalsozialisten als Helden inszeniert, die Marseille vor vermeintlichen Verbrechern geschützt hätten, wertet er zugleich die Verfolgten des Nationalsozialismus durch seine Wortwahl ab. Der Artikel veranschaulicht exemplarisch, wie Hetze eingesetzt wird, um bestimmte Personengruppen zu entmenschlichen und so Gewalt gegen diese ideologisch zu legitimieren. Das Ende des Artikels fehlt, da die folgenden Seiten in der Zeitschrift nicht vorhanden sind.
Rückblick
- April 2025: Das Dessertgeschirr der Familie Haas
- Februar 2025: Das „Luminal-Schema“
- März 2025: Ein Pizzakarton als engagiertes Statement
- Januar 2025: Die Reichsbahn und der Holocaust
- Dezember 2024: Jubel und Kritik – Blicke auf Auftritte von NS-Politikern in der NS- und Nachkriegszeit
- November 2024: Verschollen, nicht vergessen – Ein Rotwein als Gedenkort
- Oktober 2024: Zwischen Gebrauchsgrafik und Propaganda: Sammelbilderalben „Olympia 1936“
- September 2024: Sprechen und Schweigen über NS-Zwangsarbeit
- Juni 2024: Historische Räume nutzen und brechen
- Mai 2024: Spuren eines Lebens – Das Tagebuch als Quelle
- April 2024: Die Nazis und die Autobahn
- März 2024: Die Illusion von Teilhabe – Ein Raumbildalbum über den ‚Anschluss‘ Österreichs
- Februar 2024: Luftschutz – Zivile Aufgabe und Propagandainstrument
- Januar 2024: Polizistenmord in der Hamburger Nachkriegszeit
- Dezember 2023: Sammelkarten aus dem Krieg
- November 2023: Sammelleidenschaft im Dienst der Propaganda
- Oktober 2023: Trinken zum Erinnern, Trinken zum Vergessen? Der Bierkrug eines Polizei-Gendarmen
- September 2023: Amateurfilme des Gendarmen Kurt Kreikenbom
- August 2023: Das Fotoalbum als Erzählung – Erinnerungen eines Reservepolizisten
- Juli 2023: Upcycling mal anders
- Juni 2023: Überleben für welchen Preis? Die Enteignung der Familie Hertz
- Mai 2023: Wie lernt man Antisemitismus?
- April 2023: Aufstieg und Fall der Wicking-Werke
- März 2023: Zum Umgang mit Nazi-Relikten
- Februar 2023: Ein entnazifiziertes Schild?
- Januar 2023: Erna Meintrups Fahrkarte
- Dezember 2022: Wielengas Glocke
- November 2022: Ninas Brief aus dem Ghetto Lublin
- Oktober 2022: Ernst Beins Urkunde über den apostolischen Segen
- September 2022: Polizeilehrfilme aus Ost und West
- August 2022: Verkehrserziehungsspiel "Der gute Schupo"
- Juli 2022: "Erinnerungsstücke" des Ordnungspolizisten Johann Ruf
- Juni 2022: Nachlass von Paul Wulf